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22.07.2021
Zeichnung mit Mitarbeiter:innen vor einer WfbM

Leichte Antworten zu einer gerechten Entlohnung in Werkstätten für behinderte Menschen gibt es leider nicht, aber die Diskussion muss trotzdem dringend geführt werden.

Die Petition von Lukas Krämer hat berechtigterweise neuen Schwung in die Diskussion gebracht. Es erscheint naheliegend, auch für Werkstattbeschäftigte, den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geltenden Mindestlohn zu fordern. Schaut man in den Arbeitsalltag zahlreicher Werkstätten, so lässt sich an vielen Stellen kaum ein Unterschied zu sonstigen Unternehmen ausmachen. Als eigentlich "erwerbsunfähig" eingestufte Beschäftigte leisten Industriearbeiten, fertigen Eigenprodukte und erledigen aufwändige Dienstleistungsaufträge, genießen aber keine Arbeitnehmerrechte und somit auch keinen Mindestlohn. 

Die Werkstätten und ihre Beschäftigten würden mit dem Mindestlohn einen bedeutenden Schritt heraus aus ihrer Sonderstellung machen und sich auf Augenhöhe mit dem allgemeinen Arbeitsmarkt begeben. Das dies bei Werkstatt-Beschäftigten mit der Angst verbunden ist, dann auch einem entsprechenden Leistungsdruck ausgesetzt zu werden, ist nachvollziehbar. Diese Gefahr drohte aber nur dann, wenn die Werkstätten den Mindestlohn selbständig erwirtschaften müssten und dies nur möglich wäre, wenn gleichzeitig die besonderen Schutzmaßnahmen und Schonräume sowie die professionelle Unterstützung aufgegeben würden. Dies darf natürlich nicht passieren. Mit der Einführung des Mindestlohns müsste daher gesetzlich geregelt werden, dass sämtliche Entlastungsmöglichkeiten und Unterstützungsleistungen für die Beschäftigten erhalten bleiben und die Finanzierung des Mindestlohns in den Werkstätten staatlich gestützt wird, die hierzu nicht alleine in der Lage wären.

Auf der Grundlage der derzeitigen, nicht auskömmlichen Werkstattvergütungen, ist ein Großteil der Beschäftigten zusätzlich auf Grundsicherungsleistungen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt sichern zu können. Mit der Einführung des Mindestlohns wäre dies für viele Beschäftigte jedoch nicht mehr nötig, so dass ein nicht unerheblicher Teil der auf staatlicher Seite entstehenden Mehrkosten hier bereits wieder eingespart werden würde. Sehr viel mehr Geld zum Leben stünde zahlreichen Werkstattbeschäftigten vermutlich am Ende gar nicht zur Verfügung, aber es macht für das eigene Selbstverständnis und den eigenen Selbstwert einen großen Unterschied, ob ich Wohnung und Kleidung von meinem erarbeiteten Lohn bezahle oder aus der Grundsicherung finanziert bekomme.

Die alternative Idee eines Basisgeldes, das von den Werkstatträten Deutschland erdacht wurde, würde der Entwicklung eines inklusiven Arbeitsmarktes entgegen wirken. Es würde durch den einheitlich zu zahlenden, pauschalen Geldbetrag ein neuer Sonderstatus geschaffen und niemand müsste sich bewegen, um Veränderungen anzustoßen. Werkstätten, Unternehmen und Werkstattbeschäftigte könnten sich zufrieden zurücklehnen.

Nimmt man es mit der Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes jedoch ernst und strebt dem menschenrechtlichen Erfordernis der perspektivischen Abschaffung der Werkstätten zu, wird man nicht um eine umfassende Flexibilisierung des allgemeinen Arbeitsmarktes herumkommen. Für die Menschen, die darauf angewiesen sind, könnten flexible Teilzeit-, Arbeits- und Pausenzeiten, die Reduzierung von Arbeitsbelastung und Leistungsdruck sowie die Sicherstellung individueller Unterstützungsbedarfe, welche in den Werkstätten bereits angeboten und refinanziert werden, ohne nennenswerte Mehrkosten direkt in bestehende Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes umziehen. Auch weitergehende, notwendige sozial- und arbeitsrechtliche Werkzeuge liegen schon bereit (Budget für Arbeit, Arbeitsassistenz, Minderleistungsausgleiche, andere Leistungsanbieter, unterstützte Beschäftigung etc. pp.), werden aber noch nicht umfassend genutzt.

Kurz gesagt: Die Entlastungs- und Unterstützungsleistungen, die bislang nur in den Werkstätten angeboten werden, müssen in die Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes einziehen. Im Gegenzug müssen der Mindestlohn und alle übrigen Arbeitnehmerrechte mit in die Werkstätten einziehen. Beides zusammen würde einen Riesenschritt in Richtung eines inklusiven Arbeitsmarktes bedeuten, weil die Abgrenzung der Arbeitswelten zunehmend verschwimmen und einer selbstverständlicheren Durchdringung den Weg bereiten würde. So könnte der Arbeitsmarkt auch für die arbeitslosen Menschen einen neuen niedrigschwelligen Zugang bieten, denen es aufgrund vielfältiger Gründe bislang nicht möglich erschien, den hohen Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes gewachsen zu sein.

Am Ende geht es bei der längst überfälligen Öffnung des Arbeitsmarktes aber ohnehin nicht nur ums Geld oder eine angemessene Wertschätzung der Arbeitsleistung: Es geht vor allem auch um die Möglichkeit zur gegenseitigen Begegnung, um die Anerkennung und Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als gleichberechtigte und wertvolle Teile der Gesellschaft und um einen normalen, alltäglichen Austausch von Menschen mit und ohne Behinderung - auf dem Arbeitsweg, im Betrieb, in der Kantine und auf der Betriebsfeier.

 

1Live hat das Thema des Mindestlohns aufgegriffen und auch uns um unsere Stellungnahme gebeten - hier der Sendemitschnitt:

 

 

 

Bild: Lebenshilfe Stollberg